Friedensnobelpreis 1927: Ferdinand Buisson — Ludwig Quidde

Friedensnobelpreis 1927: Ferdinand Buisson — Ludwig Quidde
Friedensnobelpreis 1927: Ferdinand Buisson — Ludwig Quidde
 
Die beiden Politiker wurden geehrt für ihr pazifistisches Lebenswerk und für ihre Beteiligung an der deutsch-französischen Verständigung.
 
 Biografien
 
Ferdinand édouard Buisson, * Paris 20. 12. 1841, ✝ Thieuloy-Saint-Antoine (Département Oise) 16. 2. 1932; 1879-96 Direktor des Erziehungswesens im französischen Unterrichtsministerium, 1896-1906 Professor an der Sorbonne in Paris, 1902-19 und 1919-23 Sozialistischer Abgeordneter im französischen Parlament.
 
Ludwig Quidde, * Bremen 23. 3. 1858, ✝ Genf 5. 3. 1941; 1907-18 Mitglied des bayerischen Landtags für die DVP, 1914-29 Präsident der Deutschen Friedensgesellschaft, 1919-20 Mitglied der Nationalversammlung, 1933 Emigration.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
In der Mitte der 1920er-Jahre war die internationale Politik von dem Bestreben geprägt, die Folgen des Ersten Weltkriegs in den Griff zu bekommen und die zwischenstaatlichen Beziehungen zu normalisieren. Das Nobelpreiskomitee trug diesem Trend Rechnung, indem es 1925 und 1926 führende Politiker mit dem Friedensnobelpreis auszeichnete, die dabei eine prominente Rolle spielten und insbesondere zu einer Entspannung des deutsch-französischen Verhältnisses beitrugen. 1927 stellte das Preiskomitee den Staatsmännern Joseph Chamberlain (Nobelpreis 1925, Großbritannien) Charles Dawes (1925, USA), Aristide Briand (1926, Frankreich) und Gustav Stresemann (1926, Deutschland) die international eher unbekannten Ferdinand Buisson (Frankreich) und Ludwig Quidde (Deutschland) an die Seite. Mit der Ehrung dieser beiden Pazifisten sollte ein Signal gesetzt werden: Der Frieden in Europa und dabei vor allem der Ausgleich zwischen Frankreich und Deutschland war nicht allein das Werk der politischen Eliten, sondern auch das Verdienst von politisch engagierten Bürgern. So war es kein Zufall, dass sich 1927 gerade ein Franzose und ein Deutscher den Friedensnobelpreis teilten.
 
 Auflehnung gegen Autoritäten
 
Die Sorge um die deutsch-französische Aussöhnung war nur ein Teil der Aktivitäten der Preisträger von 1927. Sowohl Buisson als auch Quidde waren streitbare Persönlichkeiten, zu deren Schicksal es gehörte, wegen ihrer Ideale und Ziele mit den staatlichen Autoritäten in Konflikt zu geraten. Als Sozialist stand Ferdinand Buisson in jungen Jahren in Opposition zu dem autoritären Kaisertum Napoleons III. Seine Weigerung, einen Loyalitätseid auf den Kaiser zu leisten, versperrte ihm die angestrebte Schullaufbahn, und er war 1868 gezwungen, in die Schweiz ins Exil zu gehen. Hier nahm er Verbindung zu einzelnen Friedensorganisationen auf. Der Sturz Napoleons 1870 ermöglichte Buisson die Rückkehr nach Frankreich. Der studierte Pädagoge machte Karriere im französischen Erziehungs- und Bildungswesen. 1898 gehörte er zu den Gründern der »Liga für Menschenrechte«. Als Pädagogikprofessor und als Abgeordneter der Sozialisten im französischen Parlament wurde Buisson nicht müde, auf Reformen in Politik und Gesellschaft zu drängen. Insbesondere machte er sich einen Namen im Kampf um die Trennung von Staat und Kirche in Frankreich.
 
Gegen den überwältigenden Teil der öffentlichen Meinung in seinem Heimatland war Buisson der Auffassung, dass der Frieden von Versailles, in dem Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg mit der Alleinschuld am Krieg und mit drastischen Strafen belastet wurde, ein Fehler sei. Kurz vor der Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen, auf dem Siedepunkt der deutsch-französischen Spannungen, reiste der 82-jährige Buisson 1922 nach Deutschland. Zurück in Frankreich warb er um mehr Verständnis für die politischen und wirtschaftlichen Probleme der Deutschen. 1924 war er wieder in Deutschland und geißelte im Reichstag die Schrecken des Kriegs. Nicht zuletzt dank seiner unermüdlichen Tätigkeit wurde in Frankreich ein politisches Klima geschaffen, das es Außenminister Briand ermöglichte, in den Verträgen von Locarno (1925) einen Ausgleich zwischen den ehemaligen Erzfeinden herzustellen.
 
 Quidde, eine streitbare Persönlichkeit
 
Ludwig Quidde, aus begüterten Verhältnissen stammend, war auf dem Weg, ein renommierter Historiker zu werden, als die Veröffentlichung einer einzigen Schrift seine Karriere mit einem Schlag beendete. 1894 legte er ein Werk mit dem Titel »Caligula. Eine Studie über den römischen Cäsarenwahnsinn« vor. Was vordergründig wie eine Charakterstudie über den tyrannischen römischen Kaiser Caligula aussah, war in Wirklichkeit eine schonungslose Abrechnung mit der Person von Kaiser Wilhelm II. Künftig lebte Quidde von seinem ererbten Vermögen und widmete sich umso intensiver der Politik. Schon vor dem Caligula-Skandal hatte sich Quidde der Friedensbewegung angeschlossen. 1892 war er Mitglied der Deutschen Friedensgesellschaft geworden, die Alfred Fried (Nobelpreis 1911) ins Leben gerufen hatte. Nun aber widmete er sich voll und ganz der Sache des Friedens. 1894 gründete er in München einen Friedensverein, 1902 wurde er ins Präsidium der Deutschen Friedensgesellschaft gewählt, 1907 organisierte er in München einen Weltfriedenskongress.
 
Als die internationale Lage sich in den Monaten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu verschärfen begann, bemühte sich Quidde gemeinsam mit französischen Pazifisten um eine friedliche Lösung der Gegensätze. 1914 an die Spitze der Deutschen Friedensgesellschaft gewählt, gelang es Quidde, der Deutschland bei Kriegsausbruch verlassen hatte, wenigstens die Existenz der Vereinigung über die Kriegsjahre hinwegzuretten.
 
In der Weimarer Republik, die das Kaiserreich ablöste, gehörte der streitbare Pazifist 1919/20 für die Deutsche Demokratische Partei der Nationalversammlung an. Wie viele seiner Landsleute bekämpfte er den Vertrag von Versailles. Anders als die nationalen und rechtsextremen Gruppierungen sah er in dem Vertrag jedoch weniger eine Demütigung Deutschlands. Vielmehr glaubte er, wie Ferdinand Buisson, dass die harten Sanktionen eine Normalisierung der internationalen Beziehungen, insbesondere auch zwischen Deutschland und Frankreich, verhindern würden. Auf der anderen Seite fürchtete Quidde die Wiederauferstehung einer deutschen Militärgroßmacht. Und so sorgte er erneut für einen Skandal, als er 1924 in der pazifistischen Wochenzeitung »Welt am Montag« einen Artikel veröffentlichte, der von geheimen deutschen Aufrüstungen sprach.
 
Die Auszeichnung mit dem Friedensnobelpreis, die Quidde hinter den Kulissen persönlich dezent gesteuert hatte, stellte den Gipfel eines streitbaren Lebens für den Frieden dar. In der Folgezeit geriet Quidde jedoch zunehmend ins Abseits — sowohl bei seinen pazifistischen Freunden, deren Vorstellungen über den richtigen Weg zum Frieden immer weiter auseinander gingen, als auch in der politischen Landschaft Deutschlands, die zunehmend von der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten geprägt wurde. 1933 emigrierte der Friedensnobelpreisträger in die Schweiz, wo er sich, selbst in arger materieller Not, noch um das Schicksal anderer exilierter Pazifisten kümmerte.
 
H. Sonnabend

Universal-Lexikon. 2012.

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